1. Stellungnahme zum Gutachten
Zunächst ist zu klären, ob das Gericht eine Frist nach § 411 Abs. 4 S. 2 ZPO gesetzt hat. Sofern keine Einzelrichter-Sache muss ein Beschluss mit drei Unterschriften vorliegen. Andernfalls ist die Fristsetzung nicht „scharf“ (vom BGH noch nicht eindeutig geklärt, aber Neigung, s. NJW-RR 06, 428). Entschieden hat der BGH (a.a.O. und NJW-RR 01, 1431), dass bei der Fristsetzung auf die Folgen der Versäumung unmissverständlich hingewiesen werden muss, um Präklusionswirkung zu erzeugen. Ein solcher Hinweis wird von den Gerichten (wegen mangelhafter Vordrucke) nur selten erteilt. Ohne (korrekte) Fristsetzung läuft für den Anwalt eine angemessene Frist zur Stellungnahme (§ 411 Abs. 4 S. 1 ZPO). Wenn die Zeit bis zum nächsten Verhandlungstermin zu knapp ist, muss rechtzeitig um Verlegung gebeten werden. Zur Begründung reicht, es müsse noch sachverständiger Rat eingeholt, ggf. ein Privatgutachten in Auftrag gegeben werden. Notfalls Hinweis auf Art. 103 GG.
2. Inhaltliche Prüfung
Welche Anforderungen an eine(n) Partei/Anwalt nach Vorlage eines schriftlichen Gutachtens zu stellen sind, wird vor allem unter dem Blickwinkel der allgemeinen Prozessförderungspflicht bzw. Nachlässigkeit i.S.d. § 531 Abs. 2 ZPO diskutiert (s. Pkt. 3). Bei der Inhaltskontrolle wird der Anwalt sein Hauptaugenmerk darauf richten, ob dem Sachverständigen Fehler unterlaufen sind.
Häufige Fehler in unfallanalytischen Gutachten sind: Berücksichtigung von bestrittenem Parteivortrag als wahr, Zugrundelegung nicht gesicherter Zeugenaussagen, z.B. aus der Bußgeld- oder Strafakte, eigene Beweiswürdigung durch den Sachverständigen, Festlegungen in Rechtsfragen (z.B. kritische Verkehrssituation, Gefahrerkennungspunkt, Reaktionsaufforderung), Berechnung der Vermeidbarkeitsgeschwindigkeit auf der Basis der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, obgleich Besonderheiten (Dunkelheit, Nässe, Kinder am Fahrbahnrand u.a.) eine Temporeduzierung erforderten (Rechtsfrage), Verzögerungswerte/Geschwindigkeitsabbau, Prüfung der Vermeidbarkeit nur räumlich, nicht auch zeitlich.
Als besonders fehleranfällig haben sich Analysen von Kfz/Fußgängerunfällen herausgestellt, vor allem Dunkelheitsunfälle. Problempunkte: Kollisionsort, Berechnung der Kollisions- und Ausgangsgeschwindigkeit, Vermeidbarkeitsbetrachtungen, wobei vor allem das Gehverhalten/Gehrichtung und die Geschwindigkeit des Fußgängers problematisch sein können; Ermittlung der Vermeidbarkeit/Kausalität bei Geschwindigkeitsüberschreitungen nach Maßgabe von BGH NJW 03, 1929; 05, 1940; Erkennbarkeit des Fußgängers. Schwierig aufzuklären sind häufig auch Unfälle mit Beteiligung von Motorrädern (s. Priester zfs 07, 74, 137; s. auch VA 06, 170).
3. Hinzuziehung eines Privatgutachters
Die Frage, ob eine Partei nach Eingang eines ihr ungünstigen Gerichtsgutachtens verpflichtet ist, einen eigenen Sachverständigen zu konsultieren, stellt sich unter zwei Aspekten: Substanziierungslast und allgemeine Prozessförderungspflicht bzw. Nachlässigkeit i.S.d. § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO. Grundsätzlich ist eine Partei nicht verpflichtet, Einwendungen gegen ein Gerichtsgutachten bereits in erster Instanz auf ein Privatgutachten oder auf sachverständigen Rat zu stützen (BGH – IV. ZS – NJW 03, 1400), einschränkend der VI. ZS (NJW 06, 152) … „wenn ihr Vortrag fachspezifische Fragen betrifft und eine besondere Sachkunde erfordert“, was bei Unfallanalysen zu bejahen ist (BGH NJW 06, 152).
4. Einwendungen gegen das Gerichtsgutachten
Grundsätzlich sind sämtliche Einwendungen innerhalb der (wirksam) gesetzten Frist vorzubringen. Dies sicherheitshalber auch dann, wenn schon in früheren Schriftsätzen Sachvortrag enthalten ist, der als (vorweggenommene) Kritik am später eingeholten Gutachten aufzufassen ist. Formal und inhaltlich erstmalige Beanstandungen eines Gutachtens im Berufungsverfahren sind neue Angriffs- oder Verteidigungsmittel (KG 6.6.06, 12 U 138/05, Abruf-Nr. 071613 = MDR 07, 48); ebenso zusätzliche, d.h. weitere Beanstandungen nach erstinstanzlicher Anfangskritik (KG a.a.O.). Wird ein bereits schlüssiges Vorbringen aus der ersten Instanz durch weiteren Tatsachenvortrag, etwa unter Vorlage eines Privatgutachtens, zusätzlich konkretisiert, verdeutlicht oder erläutert, stellt dies kein neues Vorbringen i.S.d. §§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 ZPO dar (BGH NJW 06, 152). Angesichts der typischen Komplexität von Unfallgeschehen und der damit einhergehenden „Gesamtdarstellung“ der Parteien wird es oft möglich sein, mit dem Argument „nur Konkretisierung“ durchzudringen. So kann auch ein Parteigutachten als Konkretisierung/Verdeutlichung bisherigen Sachvortrags erfolgreich in zweiter Instanz platziert werden (BGH NJW 06, 152).
5. Soll der Sachverständige angehört werden?
- Die erste Instanz hat es verfahrensfehlerhaft unterlassen, den Sachverständigen v.A.w. anzuhören (Alternative: Zurückverweisung nach § 538ZPO auf Antrag);
- Der neue Antrag betrifft entscheidungserhebliche Gesichtspunkte, die das Gericht des ersten Rechtszuges aufgrund fehlerhafter Beurteilung der Rechtslage, z.B. Verkennen des Beweismaßes, übersehen hat (BGH 12.12.06, VI ZR 276/05, Abruf-Nr. 071618; NJW 04, 2828);
- Die Anhörungsnotwendigkeit hat sich erst durch ein Privatgutachten ergeben, das in erster Instanz unverschuldet (s. o. III, 3) nicht vorgelegt worden ist;
- Das Berufungsgericht will die mündlichen Ausführungen des Sachverständigen anders verstehen oder beurteilen als die I. Instanz (dann auch Anhörung v.A.w.).
6. Antrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens („Obergutachten“)
Anstelle eines Anhörungsantrags oder zusätzlich kann die Partei, auch hilfsweise, einen Antrag auf Einholung eines „Obergutachtens“ stellen. Anders als bei der Befragung nach §§ 397, 402 ZPO besteht insoweit kein Anspruch. Die Anordnung einer Neubegutachtung steht im Ermessen des Gerichts (§ 412 Abs. 1 ZPO). Im Einzelfall kann es auf Null reduziert sein. Gründe für ein „Obergutachten“: Erstgutachter ist nicht öffentlich bestellt und vereidigt; Mängel/Unvollständigkeiten des Gutachtens (BGH NJW 96, 730); Zweitgutachter verfügt über überlegene Sachkunde, z.B. aufgrund eigener Crashversuche; Streit zwischen Privat- und Gerichtsgutachter (BGH VersR 81, 576).
7. Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit
Keine Ablehnungsgründe sind: Ortsbesichtigung ohne Benachrichtigung der Parteien/Anwälte (OLG Stuttgart NZV 96, 323; OLG Nürnberg 4.7.06, 4 U 535/05,Abruf-Nr. 071619 = MDR 07, 237); eigenmächtige Befragung von Personen, z.B. Anwohnern (OLG Nürnberg a.a.O.); inhaltliche Mängel; Ansprechen bisher nicht thematisierter Fragen; nur indirekte Verbindung des Sachverständigen bzw. seiner Organisation zur Versicherungswirtschaft (OLG Düsseldorf 27.10.06, I-1 W 68/06, Abruf-Nr. 071614 – Dekra);
Frist: Ergibt sich der Grund für die Ablehnung erst aus dem Inhalt des schriftlichen Gutachtens, läuft die Frist zur Ablehnung erst mit der vom Gericht gesetzten Frist zur Stellungnahme ab (BGH NJW 05, 1869).