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Vermeidbarkeit

Nach einem Verkehrsunfall wird regelmäßig danach gefragt, ob der Unfall für einen der Beteiligten vermeidbar gewesen wäre. Im Rahmen von Gerichtsverfahren wird diese regelmäßig an den mit der Rekonstruktion beauftragten Unfallanalytiker gestellt.

In der Regel ist den Verfahrensbeteiligten bei der Beauftragung des Sachverständigen noch nicht klar, welche juristischen Vorgaben hierbei an den Sachverständigen zu richten sind. Deshalb wird der Beweisbeschluss allgemein abgefasst, indem nach den Geschwindigkeiten und den Vermeidbarkeitsmöglichkeiten gefragt wird. Der Sachverständige rekonstruiert dann den Verkehrsunfall Schritt für Schritt und erst dabei wird er mit komplexen und oftmals auch juristisch brisanten Fragestellungen, wie zuzubilligende Reaktionsdauer, Zeitpunkt des Gefahreneintritts usw. konfrontiert. Um weiterarbeiten zu können, muss er Vorgaben zur Durchführung der Vermeidbarkeitsbetrachtungen treffen. Hiergegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, wenn er diese Vorgaben im Gutachten ausreichend kenntlich macht und im Zweifelsfall dem Gericht mehrere Alternativen anbietet.

Hierzu ist ein Sachverständiger aber nur in der Lage, wenn er über ein fundiertes juristisches Hintergrundwissen verfügt. Wie die Praxis zeigt, knüpfen tech­nische Gutachten ihre Vermeidbarkeitsbetrachtung häufig an Ereignisse an, die nicht in dem juristisch geforderten, unmittelbaren Zusammenhang mit dem Unfall stehen. Dem technischenLaien fällt diese Kontrolle der Anknüpfung und auch der Durchführung einer Vermeidbarkeitsbetrachtung schwer, da im Gutachten mit unfallanalytischen Fachwörtern, wie „Abwehrweg“, „Reaktionsverzug“, „Verzugszeit“, „Blickzuwendung“ und „Bremsenansprechdauer“ operiert wird und zudem wesentliche Vorgaben in unübersichtlichen Berechnungsgängen versteckt sind.

Häufig relativieren sich die Kernaussagen eines Gutachtens, wenn man die unterschiedlichen Beweisanforderungen der Gefährdungs- und der Verschuldenshaftung beachtet. Es werden Unfallversionen und Vermeidbarkeitsalternativen untersucht, die bereits aus Gründen der Beweislastverteilung irrelevant sind.

Oft wird der Sachverständige auch vom Gericht bei der Beantwortung folgender, rechtlich relevanter Fragen zur Vermeidbarkeit allein gelassen:

Hat ein pflichtwidriges Verhalten vorgelegen?

Ist durch die festgestellte Pflichtwidrigkeit auch tatsächlich diejenige Gefahr eingetreten, um deretwillen die Vorschrift angeordnet worden ist?

Ist tatsächlich positiv festgestellt, dass beim pflichtmäßigen Verhalten der Erfolg nicht eingetreten wäre?

Welches Verhalten kann als verkehrsgerecht bezeichnet werden?

Liegt dann das fertiggestellte Gutachten mit den in der Zusammenfassung griffig formulierten Ergebnissen vor, wird von den Juristen häufig versäumt, die vom Sachverständigen getroffenen juristischen Vorgaben und die hieraus gezogenen Schlussfolgerungen zu prüfen. Deshalb werden wesentliche Fehler nicht erkannt.

Erhebliche Schwierigkeiten bereitet es den Sachverständigen, bei Verkehrsunfällen denjenigen Zeitpunkt herauszufinden, an den die Vermeidbarkeitsbetrachtung angeknüpft wird. Strenggenommen ist es auch eigentlich nicht Aufgabe des Sachverständigen, sondern des Gerichtes, diese Anknüpfung vorzugeben. Meist stellt sich aber erst nachdem der Unfall rekonstruiert ist heraus, welche Zeitpunkte innerhalb der Unfallentwicklung hierfür in Frage kommen. Im Zweifelsfall sollte der Sachverständige, wie bereits oben angegeben, verschiedene Alternativen zur Diskussion stellen und gegebenenfalls kenntlich machen, dass die angenommenen Positionen für die Anknüpfung diskutabel sind.

Gelegentlich findet man in Gutachten Vermeidbarkeitsaussagen in der Form, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung in jedem Fall kausal gewesen sei, da bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit das Fahrzeug später an der Unfallstelle eingetroffen wäre und deshalb der Unfall nicht stattgefunden hätte. Diese Aussage ist eindeutig falsch. Ereignet sich beispielsweise ein Kreuzungsunfall 500 m nach Beginn einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 km/h, wobei der Bevorrechtigte mit nachgewiesenen 80 km/h fuhr, so ist es völlig irrelevant, festzustellen, dass der Unfall sich nicht ereignet hätte, weil der Bevorrechtigte bei Respektieren der zulässigen Geschwindigkeit 13 s später an der Kreuzung angekommen wäre. Dies ergibt sich auch unmissverständlich aus einer Entscheidung des BGH NJW 67, 211 in dem es heißt:

„Wie der Senat wiederholt ausgesprochen hat, ist die Ursächlichkeit eines verkehrswidrigen Verhaltens für einen Verkehrsunfall für den Zeitpunkt zu untersuchen, in dem der Kraftfahrer verpflichtet gewesen wäre, Maßnahmen zur Abwendung der den Unfall unmittelbar herbeiführenden Gefahren zu treffen“.

Nimmt man das Beispiel eines am Fahrbahnrand stehenden Fußgängers, der die Fahrbahn überqueren will, stellt sich unmittelbar die Frage, ab wann der Kraftfahrer dazu verpflichtet ist, Maßnahmen zur Abwendung des Unfalls einzuleiten. Diese Problematik kann der Sachverständige überhaupt nicht beantworten, ohne eine rechtliche Wertung vorzunehmen. Handelt es sich beispielsweise um ein Kind oder einen älteren Menschen, ist zu überlegen, ob der Vertrauensgrundsatz hier anwendbar ist oder nicht. Weiterhin ist bei Gültigkeit des Vertrauensgrundsatzes zu überlegen, in welcher Position für den Autofahrer tatsächlich erkennbar ist, dass seine Vorfahrt nicht beachtet wird. Ist hiervon schon auszugehen, wenn sich der Fußgänger in Richtung der Fahrbahn dreht? Rechtfertigt der Bewegungsvorgang des Fußgängers in Richtung der Fahrbahn bereits eine Vollbremsung? Kann man davon ausgehen, dass ein die Fahrbahn von links nach rechts überquerender Fußgänger an der Fahrbahnmitte anhält? Dies sind alles Rechtsfragen, deren Beurteilung in der Regel stillschweigend dem Sachverständigen überlassen bleibt.

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